Vom halb gebackenen Bäcker
„Bigna, komm schnell, Delfine!“
Nach knapp drei Tagen Schiffsfahrt mit ständigen unterhaltsamen Witzen wie „Ich habe soeben einen Wal springen sehen, aber leider hast du den verpasst!“ glaub ich diesen Satz nicht mehr - doch dieses Mal ist es wirklich wahr. Am früheren Morgen bei Einfahrt in Batumi, Georgien, begleiten uns tatsächlich Delfine. Noch etwas verschlafen beobachten wir diese Meerestiere und bestaunen gleichzeitig die modernen Gebäude, die an Land sichtbar werden. Und dann endlich wieder Frauen! Mit grossen Schritten betreten die georgischen Zollfrauen das Schiff. Die Stimmung ist locker, alle sind wohl froh, angekommen zu sein. Wir kriegen die „Number 1“ und können nach einem freundlichen „Welcome to Georgia“ der Zöllnerin unser Gepäck aufsatteln und als erste vom Schiff runter. Für die LKW-Fahrer wird es wohl noch Stunden dauern, bis sie durch die Kontrolle sind und auch der Hinterste den milimetergenau parkierten Lastwagen aus dem Schiff fahren kann. Etwas neidisch rufen sie uns Aufwiedersehen und John, unser Kabinen-Kumpane, möchte uns noch ins Hostel fahren. Wir lehnen dankend ab und sind zu Fuss auch bald schon in unserem neuen Zuhause. Diesmal kommt uns der Rucksack schwer vor, alles schwankt noch ein bisschen und wir freuen uns auf eine richtige Dusche!
In der Sonne glänzen die schönen Stein-Trottoirs und farbigen Häuser. Balkone mit frisch aufgehängter Wäsche und schönen, detaillierten Geländer-Verzierungen schmücken die Häuser, wir sind begeistert und fühlen uns sofort wohl. Die Einheimischen sitzen auf den Trottoirs, geniessen die Sonne und einen Schwatz mit Nachbarn. Auch auf den unzähligen Baustellen scheinen die Bauarbeiter mehr Kaffeeplausch als Arbeit zu haben. Hungrig beissen wir in ein Katchapuri rein und merken bald, dass das herrlich frische Brot mit Ei und viiiiel Käse (oder sowas in der Art) schnell den Magen füllt. Später erfahren wir, dass die GeorgierInnen diese Nationalspeise normalerweise teilen. Eine zweite absolute Lieblingsspeise sind die Khinkali, eine Art grosse Teigtaschen, die ja nicht (!) mit Messer und Gabel sondern von Hand gegessen werden. Reinbeissen, Saft rausschlürfen und dann zünftig reinbeissen. Lecker! Wir lassen uns in einem sympathischen Restaurant verwöhnen und prompt als wir bezahlen und unsere mit Essen und Wein (Georgien das Land des Weines!) gefüllten Körper ins Bett tragen wollen, werden wir an den Männertisch gerufen und das Essen und Trinken geht weiter. Wir haben ja von ihrer Gastfreundschaft gelesen, aber als wir danach mit 2 Liter selbst gemachtem Wein und einer Verabredung zum Fischessen für den nächsten Tag ins Hostel torkeln, sind wir überwältigt!Begeistert sind wir nicht nur von den Menschen, sondern auch von den friedlichen Strassenhunden. Wir erfahren und sehen, dass die meisten einen Chip im Ohr tragen: das heisst nämlich, sie sind kastriert/unterbunden und geimpft! Die meisten sehen auch gesund und gut genährt aus, da sie anscheinend offiziell von der Polizei und Einwohnern gefüttert werden. Mein Hundeherz schlägt gleich ein bisschen höher und ich hab ab sofort in meiner Jackentasche etwas Futter mit dabei. Inspiriert von den Hundefamilien vertiefe ich mich im Internet über Hunderudel- und Erziehungstheorien von Hundeflüstern.
Wir lieben es, die Städte zu Fuss zu erkunden und etwas unbekanntere Quartiere zu entdecken. Dabei stossen wir immer wieder auf tolle, spontane Überraschungen. In Batumi ist es das Art Café von Maya, einer sehr sympathischen Georgierin, die inmitten der eher Sommer-Tourismus geprägten Stadt ein kulturelles Zentrum mit kleinen temporären Ausstellungen, Kinder-Mal-Kursen, Konzerten und sonstigen Veranstaltungen eine tolle Atmosphäre und Rückzugsort für junge kreative GeorgierInnen bietet. Wir gehen jeden Tag für leckeres Frühstück und Kaffee vorbei und lernen an einem Abend die tolle Stimmung während eins Dj-Auftritts kennen. Mit leckerem Honig im Gepäck verabschieden wir uns von ihr und der Stadt, eine Stadt, die im Sommer überfüllt von Strand-Touristen ist und jetzt noch die Ruhe vor dem Sturm geniesst. Der Gegensatz zwischen Moderne und Tradition fällt uns schon in Batumi durch die Architektur auf, nach einer längeren Zugfahrt im modernen Schweizer Zug nach Tiflis wird dies noch einmal deutlicher. Leider wird auch deutlich, dass auch Georgien in Sachen Abfallentsorgung wenig Rücksicht auf ihre wundervolle Natur hat.
Wir tauchen ein in die vielseitige Welt des berühmten TBILISI. Erschöpft von der Zugfahrt und vor allem von der kurzen Nacht zuvor (die Nachteile von Betten im Schafsaal sind unerwartete Aussetzer von „Mitbewohnenden“, die einem kaum schlafen lassen) stapfen wir die Treppen des alten Hauses ohne Glas in den Fensterrahmen hoch in den obersten Stock ins „Hippie Hostel“. Noch denken wir nicht, dass wir so lange an diesem Ort bleiben und eine kleines temporäres Zuhause mit Wg-Flair finden. Das Hostel scheint in aufgebrachter Stimmung, die vorherige Managerin ist anscheinend abgehauen und relativ spontan hat der freiwillige österreichische Mitarbeiter nun das Management übernommen. Unsere Tür schliesse noch nicht richtig und es sei noch Vieles zu flicken. Das Hostel ist mit zwei Stockwerken und mehreren Balkonen gross, doch der Zustand lässt einem zweifeln, ob der Balkon wirklich Stand hält und das kleine Küchenfenster bei nächstem Aufmachen vielleicht rausfallen wird. An der Gastfreundschaft jedoch zweifeln wir überhaupt nicht. Neben Deutsch wird viel Russisch gesprochen und von Sadi kriegen wir eine Lektion Persisch verpasst! Abends tauchen jeweils georgische und iranische Freunde des Besitzers auf und die grosse Küche verwandelt sich in eine Bar und Tanzfläche! Wirklich früh steht niemand auf , das Hostel scheint alle in Schlaf-Trance zu versetzen, niemand hat es eilig, Essen wird geteilt und geschaut wir für jede/n. Verhält sich jemand nicht nach den Regeln, so diskutieren wir und finden gemeinsam konstruktive Lösungen. Der Kern des Hostels sind der Manager und die „freiwilligen“ Mitarbeiter, die gegen Logis mithelfen und wie eine kleine WG sind. Bald auch gehören wir zu dieser kleinen WG, weil wir ständig weitere Nächte verlängern und schlussendlich 2 Wochen da verweilen. Die Stadt und das Hostel haben uns in den Bann gezogen!
Tbilisi ist sehr vielseitig und vielschichtig, hat eine spannende und prägende Geschichte und bietet für alle etwas zum Entdecken. Vom wunderschönen Botanischen Garten über die Altstadt mit den schönen farbigen, ineinander verstrickten Häuser über den breiten braunen Fluss und die verschiedenen Brücken und Stadtteile. Im gewissen Stadtteilen sind die Häuser so ineinader verbaut, dass überhaupt nicht zu erkennen ist, wieviele Parteien da wohl wohnen. Balkone und Treppen führen von da nach dort und Kinder rennen umher, auch wenn man von aussen das Gefühl hat, es stürzt jeden Moment zusammen. An Ecken und Mauern sitzen meist ältere Menschen, die frische Blumen und Kräuter verkaufen, manchmal auch kitschige Schlarpen oder Unterwäsche. Viele Läden sind im Untergeschoss und die steilen Treppen somit Gratis-Fitnessprogramm. Es scheint, als verkaufen die Kleiderläden vor allem Secondhand-Kleider und die Stils auf den Strassen sind durch das kreativ und persönlich. Massenware ist hier abgesehen von Gemüse&Früchten auf dem grossen Markt zum Glück nicht zu sehen. Ebenso schulen die TbiliserInnen die Reaktions- und Konzentrationsfähigkeiten, schaut man nämlich zu wenig auf das Troittoir fällt man entweder in ein grosses Loch oder steht direkt in frische Hundekacke. Zum Glück sind wir von beidem verschont geblieben.
Ein absolutes Highlight ist die Herstellung ihres feinen Brotes Tonis: wir müssen gar nicht mehr ins Theater, denn die Vorstellung kriegt man bei der Bäckerin gegenüber. 500 Gramm Hefeteig wird auf ein rundes, mit stoff bezogenes Holzkissen gelegt, dann mit geschickter Beuge wird der Teig an die Wand des mit Feuer eingeheizten Tonofens geklatscht! Als wir es das erste Mal sehen, bleibt uns der Atem kurz stehen, denn es sieht aus, als falle der Bäcker direkt in den Tonofen, der wie ein runder Brunnen aussieht. Um einen Eindruck zu erhalten, schaut in dieses Video (in Armenien haben sie das gleiche Prinzip) rein: https://youtu.be/jjcY5Rd4vzQ Und wie lecker es riecht - hmmhm, wir rennen jeden Morgen die Treppen des Hippie Hostels runter, um gegenüber ein Lari gegen 1 Brot zu tauschen.
Da das Wetter noch eher kühl ist und die wunderschönen Bergregionen im Georgien noch zu kalt zum Geniessen sind, entscheiden wir uns, weiter nach Armenien zu ziehen und hoffen auf dem Rückweg nochmals Georgiens Landschaft geniessen zu können. Wir sind begeistert vom georgischen Gesang und wer davon eine Geschmacksprobe will, hört in das Video rein: https://youtu.be/EgHJvIuBqK0 oder bestellt eine CD von den Singfrauen Winterthur, die immer wieder einen georgischen Frauenchor einladen. Es hat ewas sehr Berührendes, Mystisches und Emotionales. Anscheinend sei das jedem und jeder GeorgierIn in die Wiege gelegt.
Unsere Hostel-Family begleitet uns wie die kleinere Form unseres Zürich-Abschieds-Trupps auf die Strasse runter und Sadi freut sich so wahnsinnig über das Schweizer Taschenmesser, das das Funkeln in seinen Augen die Tränchen übertönen!
Ab in die Mashrutka (grosse shared Taxis) und dann gehts los über die Grenze, sobald es 7 Personen sind. Wir verbringen einen halben Nachmittag am Busbahnhof, einmal mehr wieder wie an vielen öffentlichen Orten fast nur unter Männern, beobachten Hunde und sind froh, als der Fahrer das Paar ablehnt, das mit ominösen 7 Schachteln mit Rosen über die Grenze will.
Mittlerweile sind wir bereits gut 2 Wochen in Armenien und aktuell im Eco-Camp in Kapan im Südosten: hier suchen und bezeichnen wir Wanderwege, sammeln Abfall ein, verbessern die Gartenhäuschen zusammen mit andern Volontären und schlafen im Mini-Mini-Haus. Im nächsten Reisebrichtli erzählen wir genauer, wie wir unsere Muskeln hier eingesetzt haben. Jetzt gehts ab in ein hoffentlich wärmeres Café, denn hier hat es über Nacht geschneit und wir haben fast kein Holz mehr zum Verbennen.
Gutes Eier-Suchen allerseits!
Bigna & Silvio