8-beinig unterwegs

Alaverdi, Yerevan, Jermuk, Kapan, Goris, Sissian, Yereghnazor, Tbilisi, Baku

Es ist ein regnerischer Tag im Eco-Camp in Kapan, Armenien. Wir Volontäre sollten heute die Wand eines kleinen Lehmhäuschens im Permakultur-Garten verbessern. Aber an diesem Tag sind wir abgelenkt. Wir befinden uns am Hügel oberhalb der kleinen Stadt Kapan im Osten Armeniens nahe der iranischen Grenze. Gekocht wird draussen in der offenen Gartenküche, geduscht wird im kleinen Steinhäuschen inklusiv Bergaussicht (Anm. d.Red. Aussicht nur für alle über 1.70 grossen Menschen ;-)) und geschlafen in kleinen zweistöckigen Holzhüttchen, in denen pro Stock nichts mehr als eine Matratze Platz hat. An diesem Tag haben wir speziellen Besuch. Kurz nach der Kaffeepause ruft uns Perrine her, auf ihrem Gesicht ist ein leicht ängstlicher aber auch neugieriger Ausdruck abzulesen, sie zeigt Richtung Wald und fragt uns „What kind of animal is this?!“ Wir starren alle. Ist das Tier, das wir von Weitem sehen, ein spezieller Wolf oder Schakal, die wir jeweils abends heulen hören? Es schaut leicht angespannt aber auch neugierig in unsere Richtung, bewegt sich kaum und ist durch die dunkelbraun/beigen Fellfarben gut getarnt. Es ist helllichter Tag und wir sehen von Weitem ein Tier, das wir noch nie gesehen haben. Es beobachtet uns auch. Irgendwie gleicht es auch stark einem Hund, aber die grossen, spitzigen Ohren und die Fellgebung sind einzigartig. Ich will zu unserem Camp-Tor und schauen, wie das Tier reagiert, wenn wir uns annähern, doch als ich vorne bin, ist es bereits weg. Wir sind verzaubert und sprechen den ganzen Nachmittag von dieser Begegnung, während wir armenisches Radio im Hintergrund hören und die Lehmwand weiter verbessern.

Wir sind eine tolle zusammengewürfelte Gruppe von Reisenden aus Frankreich und der Schweiz. Über die Plattform Workaway haben wir uns für dieses Projekt beworben. Armen, gebürtiger Armenier,hat lange in Russland gelebt und im Bankwesen gearbeitet, bis er die Computer-Arbeit nicht mehr als sinnvoll erachtete, sein Augenlicht langsam aber sicher verschwand und er sein Leben komplett umstellen wollte. Sein Ziel ist es seit fünf Jahren, die östliche Region Armeniens, die sich auf der alten Seidenstrasse befindet, für naturnahe Touristen attraktiv zu gestalten und Einheimischen durch den Tourismus eine Alternative zu den vielen noch immer vorherrschenden schrecklichen Minen-Jobs zu bieten. Armen hat grosse Visionen, viel historisches Wissen und eine unglaubliche Energie. Beinah blind findet er sich prima zurecht, es ist beeindruckend. Auf seine kommunikativen und gruppenleitenden Fähigkeiten haben wir jedoch immer wieder ein kritisches Auge und setzen uns auch für unsere freien Tage ein. Wir markieren wunderschöne neue Wanderwege, sammeln Unmassen an Plastik aus den Wäldern ein (ein absolut grosses Problem und Thema, das ich hier nicht weiter erläutere) arbeiten im Permakulturgarten, reissen einen Boden raus oder flicken das Gartensofa. Die Arbeiten sind spannend und abwechslungsreich und die erste Volontär-Gruppe sehr unterhaltsam. In der zweiten Woche wechselt die Gruppe und gleichzeitig das Wetter. Von sonnigen knapp 20 Grad kippt es zu 10 Zentimeter Schnee im Garten - wir sitzen zu fünft im Gemeinschaftsraum fest, haben teilweise keinen Strom und können nur mit Holz heizen, von dem es auch nicht mehr viel übrig hat. Als dann an einem Tag das Trinkwasser nicht läuft, die Stimmung unter dem andern Päärchen nicht prickelnd ist und wegen des Wetters keine Arbeit auszurichten ist, planen wir zwei am nächsten Tag weiterzureisen. Doch da hören wir plötzlich ein unglaublich lautes Jaulen eines Tieres und wir ahnen bereits, was passiert ist. In den vergangenen Tagen hatten wir dieses wolfshund-ähnliche Tier mehrmals gesehen und gemerkt, dass es nachts in unsere Küche schlich. Manchmal stand es auch morgens im Garten, scheu und zurückhaltend versuchte es auch rauszufinden, wer wir sind und begrüsste uns nach einiger Zeit auch beim Zurückkommen zögerlich vor dem Tor. Von nahem waren wir dann der Überzeugung: es ist ein Hund mit sehr speziellem Fell, vielleicht doch eine Schakal-Hund-Mischung. Armen bat uns, das Tier immer wegzuscheuchen und Silvio hatte den Auftrag, den Zaun des ganzen Projekts zu reparieren, sodass es nicht mehr in den Garten und die Küche reinkommen konnte. Doch dieses neugierige und wohl ziemlich hungrige Tier kümmerte das nicht, es sprang nun einfach über eine Zaunstelle drüber - aber blieb leider hängen. Und das verletzte Jaulen das wir dann hören, ist grausam. Wir rennen zum Ruf und sehen den Hund mit einer Pfote 180 Grad umgedreht im Zaun festhängen. Roxanne und ich sprinten los, um ein Werkzeug zu holen, Silvio bleibt bei der Stelle und der Hund beruhigt sich. Dann schneidet er eine Stelle frei und der Hund plumpst auf den feuchten Erdboden. Er legt sich einen Meter neben dem Zaun hin und schleckt sich die Pfote. Wir beobachten und bestaunen ihn, der Hund schaut uns nochmals an als würde er Danke sagen und trottet davon. Geschockt vom Erlebnis, buddelt Silvio wieder ein freie Lücke auf Bodenhöhe, denn wir wollen nicht noch ein schlimmeres Unglück. Wir gehen wieder in das Haus zurück und trinken Tee. Von diesem Ereignis an beginnt die Liebensgeschichte. Der Hund steht schon bald wieder im Garten und Silvio wird zum Retter und Verehrten. Mit mir spielt der wunderschöne Hund gern und zeigt trotz des am Anfang eingezogenen Schwanzes und ängstlicher Reaktion nach ruckartigen Bewegungen bald seine Treue indem er sich an mich kuschelt und auf den Rücken legt. Mittlerweile akzeptiert auch Armen den Hund und wir alle sind verliebt. Als Silvio und ich dann an einem freien Tag in die Stadt runter spazieren, verfolgt uns die mittlerweile ernannte Loki auf Schritt und Tritt. Es scheint, als wäre sie noch nie unten in der Stadt gewesen, vorsichtig probiert sie uns über die Treppe zu folgen und kreist um uns herum. Die Menschen starren uns in dieser Stadt als Touristen sowieso bereits an, aber mit Loki zusammen fallen ihnen teilweise fast die Augen aus dem Kopf. Einige weichen auch leicht kreischend aus, verständlich, wir dachten ja auch sie habe etwas wölfisches. Gleichzeitig hat sie ein wunderschönes getigertes Fell und so fällt manchmal der Witz, sie sei halb Tiger, wenn die neugierigeren Menschen nach „parode“ (Rasse) fragen. Sie will auch in die Läden rein, doch dank meiner vielen geschauten Hunderziehungs-/Rudelverhalten studierten Videos kenn ich nun ein gutes Verbotsgeräusch, das sie sofort begreift und einhält. Nach diesem Erlebnis in der Stadt sehen wir bereits die Headline der Zeitung „Touristen mit Wolfshund in Kapan gesichtet“ und lachen lauthals.

Nach fast einer Woche Camp mit Loki (wohlgemerkt, wir sind nach kurzem Start der Liebesgeschichte natürlich doch nicht abgedüst) entscheiden wir uns, diesen tollen Hund mit uns auf die Reise und in die Schweiz mitzunehmen. Seit ich 10 Jahre alt bin, wünsch ich mir einen Hund und nun geht es in Armenien in Erfüllung? Unglaublich! Wir hatten bereits Kontakt mit einer Strassenhunde-Organisation in Yerevan, der Hauptstadt, aufgenommen und abgeklärt, was das bedeuten würde. Wir waren auch beruhigt zu hören, dass sie bestimmt keine Mischung Hund/Schakal/Wolf ist, sondern ein spezieller Hunde-Mix. Mit Armen als Übersetzer besuchen wir dann den Tierarzt in Kapan, wobei wir bald merken, dass dieser eher auf Pferde und Kühe spezialisiert ist und wir lieber nach Yerevan gehen, um die ganze Impf-Prozedur mit English-Verständigung zu starten.

Wir trainieren Loki zu sitzen und auf unser schwungvolles Handzeichen zu warten, bis sie genüsslich in Reis, Hafer und ihre heiss geliebten rohen Eier reinbeissen darf. Sie ist intelligent und lernt schnell, die Tricks aus den Hundevideos und unsere Geduld zahlen sich aus, wir sind begeistert und Loki wird jeden Tag zutraulicher bis sehr anhänglich. Auch das Halsband und die Leine akzeptiert sie ohne Widerstand und geniesst es, täglich Trainingseinheiten mit ihren Hundemeistern zu verbringen. Sie beschützt nun bereits auch das Camp und fühlt sich pudel- sprich einfach hundewohl in der ganzen Gruppe, beobachtet aber immer ganz genau, wohin wir zwei gehen. Auf unseren Pfiff mit der Nussschale (danke Grossvati!) hört sie wunderbar und kommt jedes Mal schwanzwendelnd hergerannt. Silvio wird Zeckenzieh-Meister und wir verwunden ihre kaputte Pfote so gut es geht. Die Morgenspaziergänge morgen früh inmitten der Natur mit Bergsicht und die Abendspaziergänge mit funkelndem Sternenhimmel sind wunderbar. Mit Hilfe eines Deutsch sprechenden armenischen Taxifahrers trainieren wir mit ihr Auto zu fahren und so gehts bald los Richtung Hauptstadt. Armen will uns fast nicht gehen lassen und ist total beglückt von unserem CH-Taschenmesser Geschenk. Armeniens Strassen sind absolut nicht empfehlenswert, vor allem wenn es einem schnell übel wird. Die wunderschöne Natur, die teilweise innerhalb von einer halben Stunde von steinig zu grasgrün wechselt, macht es jedoch wett. Armenien hat atemberaubende Bergregionen und die Autofahrt schlängelt sich über die Berge hindurch, dabei muss der Fahrer ständig riesen Strassenlöchern ausweichen, die Strassenzustände sind teilweise noch prekärer als in Kuba. Auch Loki macht das zu schaffen und so kommt es, dass es nicht nur mir, sondern auch ihr übel ist. Silvio meistert es mit ruhiger Art wunderbar, spürt bevor es wieder losgeht und kann auf Russisch fast jedes Mal den Fahrer vorher zum Stoppen bringen. Ich bin froh, als die dreistündige Fahrt vorbei ist. Wir landen im kleinen Städtchen Goris, das von der Architektur her spannender ist als sonstige armenische Orte. Zur Belohnung holen wir beim netten Metzger Knochen für unsere wölfige Hündin und sie frisst genüsslich und zufrieden. Bis nach Yerevan stoppen wir noch in Sissian und Yereghnazor und kommen so etappenweise ans Ziel. Die Autofahrten und das Finden einer Unterkunft ist etwas komplizierter geworden, aber wir treffen immer wieder auf nette Menschen. Allgemein sind die armenischen Leute sehr hilfsbereit und durch Loki entstehen noch viel mehr tolle, neue Kontakte.

Die kleine Wohnung, die wir in Yerevan mieten ist prima und auch Loki fühlt sich drinnen wohl. Wir sind erstaunt, wieviel und schnell sie lernt, wie gut sie sich als wilder Hund an die völlig neuen Umwelten mit Freude anpasst. Wir sind ein super Trio! Umso mehr schockt uns die Nachricht des Tierarztes, der uns erklärt, dass seit kurzem die Gesetze noch strenger sind und es 5 (anstatt 2) Monate dauern würde, bis wir mit ihr ausreisen können. 5 Monate?! Hat die NGO, mit der wir ständig in Kontakt waren, nichts davon gewusst? Wir überlegen hin und her, denken jenste Varianten und Möglichkeiten durch, sind traurig, wütend, ernüchtert und etwas ratlos. Schlussendlich entscheiden wir uns dafür, dass es das Beste für diesen tollen Hund ist, in Armenien ein Zuhause zu finden. Obwohl die NGO‘s sagen, dass es unmöglich wird, jemanden zu finden, da alle ihre Hundeheime mit zur Adoption frei gegebenen Hunde mehr als überfüllt sind. Wir probieren es über Facebook und sprechen alle Leute, die wissen wollen, welche „parode“ sie ist und etwas Englisch können, an und bilden so ein kleines Netzwerk von Helfenden. Agashi, ein junger Armenier, der mal in Norwegen gelebt hat und zuerst etwas mysteriös wirkt, findet schlussendlich für Loki ein neues Zuhause, das wir den Umständen entsprechend nicht im Traum erwartet hätten: ein junges Paar, das ausserhalb von Yerevan ein Weingut mit wunderschönem Garten, indem sich ein kleiner Bach durchschlängelt und Obstbäume Schatten spenden, bestitzt - was hätte Besseres passieren können! Traurig über den Abschied aber total glücklich über diese Begegnung verabschieden wir uns von diesem tollen Tier und wünschen ihr ein schönes Hundeleben auf dem Weingut. Prost auf dieses Happy End!

Wir zwei ziehen weiter direkt mit dem Bus nach Tbilisi und überraschen unsere Hostel-Familie, Sadi steht 5 Sekunden mit offenem Mund in der Tür und kann es kaum fassen. Dann ab gehts weiter nach Aserbaidschan, wo wir unsere französischen Freunde aus Kapan feierlich wiedersehen und nun doch alle wie ursprünglich mal angedacht gemeinsam auf die Fähre nach Kasachstan können - wohooo! Jeden Tag müssen wir den Hafen anrufen und es heisst oft, man solle am nächsten Tag nochmals anrufen. Und plötzlich heisst es, „Kommt heute, das Schiff fährt am Abend.“ Also schnurrstracks zum 1 Stunde entfernten Hafen - wo wir dann ewig warten und jenste Touristen treffen, die schon da campieren, weil ihnen jeden Tag falsche Hoffnung gemacht wurde. Doch wir haben Glück. Nach 6 Stunden Wartezeit in der Hitze gehts los - die Fähre fährt dann erst um 3 Uhr nachts los, doch das kümmert uns nicht - unser 5er Grüppli hat auch nach dieser Wartezeit unterhaltsame Witze bereit.

Wir sind gespannt auf die Zeit auf dem asiatischen Kontinent und hoffen alle, dass wir bei Ankunft keine saure Kamelmilch zur Feier des Tages kriegen.

Hundische Grüsse,
Bigna & Silvio

P.S.: Das Mail ist sehr „hundelastig“ geschrieben, aber es versinnbildlicht auch die „hündische“ Zeit, die wir in Armenien hatten. Und Silvio, der immer meinte, er möge keine Hunde hat inzwischen seine Meinung ziemlich geändert;-). Es war ein tolles, sehr lehrreiches Abenteuer und wir haben uns bereits bis September achtbeinig reisen sehen, aber wie das so ist: die Pläne ändern sich! Und nun sind wir ja wieder für einen Moment 10-beinig unterwegs.